Ich habe Mengeles Todesspritze überlebt

Als Zehnjährige wurde Eva Mozes Kor von dem Nazi-Arzt Dr. Josef Mengele für Menschenversuche missbraucht. Kommende Woche wird sie zum Holocaust-Gedenktag in das Land ihrer Peiniger zurückkehren. BILD am Sonntag traf die Frau, die dem Teufel entkam.

Es ist ein Moment, der sich in ihre Seele gebrannt hat. Mehr als alles Grauen, das sie ertragen musste. Wenn Eva Mozes Kor an die zehn schlimmsten Monate ihres Lebens denkt, dann erscheint ihr das Bild einer jungen Frau.

Den Blick voll von Liebe, einen Arm mit nur schwer unterdrückter Trauer nach ihr und ihrer Zwillingsschwester Miriam ausgestreckt, die doch längst außer Reichweite sind. Es war im Mai 1944, auf der Selektionsrampe von Auschwitz. „Es war das letzte Mal, dass ich Mama sah“, sagt Eva Mozes Kor.

Zehn Jahre alt war sie damals. Sie wusste nicht, dass ihre Mutter und auch ihr Vater und ihre beiden älteren Schwestern dem Tode geweiht waren.

„Wenn ich es gewusst hätte“, sagt sie heute, „wenn ich erfasst hätte, was in dem Lager vorging, hätte ich es dort nicht ausgehalten. Es hätte all die Kraft von mir genommen, die ich brauchte, um zu überleben.“ So aber wuchs aus der Sehnsucht nach ihrer Mutter, der Hoffnung, mit der ganzen Familie nach Hause zurückzukehren, der Wille, noch die schrecklichsten Heimsuchungen zu überstehen.

„Ich lief ja über Tote, die am Boden lagen, und ich roch den Gestank von verbranntem Fleisch, aber es kam kein Gedanke darüber an mich heran“, erzählt sie. „Meine Gedanken galten der Frage, wo ich ein Stück Brot herbekomme.“

Eva Mozes Kor, die am 31. Januar vor 78 Jahren in Siebenbürgen geboren wurde, lebt heute in den USA, in der Kleinstadt Terre Haute in Indiana. Ihr Mann Mickey Kor hat den Holocaust ebenfalls überlebt, und weil der Soldat, der ihn aus dem KZ befreit hat, aus Terre Haute kam, ist er dort hingezogen, weil er meinte, dort müssten gute Menschen wohnen. Zwei erwachsene Kinder hat das Paar.

Eva, wie sie alle nur nennen sollen, hat bis vor Kurzem als Immobilienmaklerin gearbeitet, und sie betreibt ein kleines Museum mit Bildern, Briefen und Artefakten aus Auschwitz. Sie ist eine kleine Person mit blond gefärbter Dauerwelle und einer Vorliebe für Hosenanzüge in leuchtenden Farben.

Besuchern demonstriert sie gern, wie sie Käsesandwiches mit dem Bügeleisen zubereitet. Und obwohl sie weder deutsch reden noch hören mag, weil sie die Sprache an den Kommandoton der Nazis erinnert, gerät sie sogleich ins Schwärmen: von „wunderschönen Städten“, der Hilfsbereitschaft deutscher Taxifahrer, dem ICE. Eva Mozes Kor hat nichts gegen die Deutschen. Mehr noch: Sie hat ihnen verziehen.

Allen. Sie sagt: „Ich trug die Wunden, die sie mir zugefügt haben, lange mit mir herum, bis ich einen Weg zur Heilung fand – durch Vergeben.“

Dieser Schritt, sagt sie, habe ihr Frieden gegeben. Und er ist umso bemerkenswerter, wenn man weiß, dass sie damit nahezu alle anderen Auschwitz-Überlebenden gegen sich aufgebracht hat.

Und er ist umso unglaublicher, wenn man ihre Geschichte kennt: Eva und Miriam Mozes gehörten zu den sogenannten „Mengele-Zwillingen“. Geschwisterpaaren, die vom Tod in der Gaskammer verschont, aber für die grauenvollen und sehr oft tödlichen medizinischen Experimente des KZ-Arztes und Rassenhygienikers Josef Mengele aussortiert wurden.

Josef Mengele. Kriegsverbrecher, Massenmörder, Inkarnation der nationalsozialistischen Menschenverachtung. Er wurde nie belangt; angeblich starb er 1979 bei einem Badeunfall in Brasilien. Ein Mann, der, wie sich Eva Mozes Kor erinnert, „aussah wie ein Filmstar und Opernmelodien summte“ und von „meinen Kindern“ sprach.

Literweise zapfte er ihnen Blut ab, „oft bis wir ohnmächtig wurden“, um es dann Schwangeren zu injizieren. Ganze Batterien von Spritzen rammte er in ihre Körper, oft mit Krankheitserregern infiziert; und sobald das Kind starb, brachte er auch den anderen Zwilling um, um eine vergleichende Autopsie an beiden vorzunehmen.

Eva sah Kinder, die erblindeten, weil Mengele mit Chemikalien ihre Augenfarbe verändern wollte, Kinder, die versehrt waren oder starben nach Kastration, Amputation, Organentnahme.

Auch Eva Mozes erhielt eine fatale Injektion. Und bekam daraufhin hohes Fieber, Arme und Beine schwollen an, große rote Flecken breiteten sich im Gesicht aus, und sie wurde ins Hospital gebracht, aus dem nie jemand lebend wieder rausgekommen war. „So jung und nur noch zwei Wochen zu leben“, befand Mengele anderntags mit Blick auf ihre Fieberkurve.

Eva Mozes Kor zitiert Mengele auf Deutsch. Dieser Satz ist die andere Erinnerung, die sie nicht loslässt. Er führte dazu, dass die mentalen Schutzmechanismen, die das kindliche Gemüt bis dahin vor dem Horror bewahrten, mit einem Mal wegbrachen – und Eva klar wurde, dass sie und Miriam dem Tod entgegensahen.

„Und da schwor ich mir: Ich werde nicht sterben. Ich will leben. Ich muss leben. Und ich werde Miriam wiedersehen.“

Tatsächlich ging das Fieber nach zwei Wochen wieder runter. Woher die Zehnjährige die Kraft nahm, Mengele „einen Strich durch die Rechnung zu machen“, wie sie sagt, weiß sie nicht. Sie erinnert sich nur daran, immer wieder auf Knien über den Boden gekrochen zu sein, zu schwach, um zu laufen, aber stark genug, um zu wissen, dass am anderen Ende der Baracke eine Wanne mit Wasser steht, das sie dringend brauchte.

Eva und Miriam überleben. Die Rote Armee befreit die beiden vier Tage vor ihrem 11. Geburtstag aus den Fängen von Mengele und seinen Schergen. Es gibt ein berühmtes Bild von diesem Tag, da blickt eine Schar Kinder scheu in eine ungewisse Zukunft.

Ganz vorn: Eva und Miriam, die zu ahnen scheinen, dass diese Zukunft nicht nur Gutes für sie bereithält. Sie werden feststellen, dass ihre Kindheit vorbei ist, weil ihnen „nie mehr nach Spielen zumute“ sein wird. Sie werden erfahren, dass ihre Eltern und Geschwister tot sind und sie deswegen zu einem Onkel ziehen müssen, in ein fernes Land, nach Israel.

Vor allem aber werden sie spüren, dass Mengeles Werk weiterwirkt: Bei Eva wird Tuberkulose diagnostiziert, Miriam, was viel schlimmer ist, wurde offenbar ein Gift injiziert, das ihre Niere nie größer werden ließ als die einer Zehnjährigen.

In den 1980ern wird ihr Leiden lebensbedrohlich; auch eine Transplantation von Evas linker Niere hat keinen Erfolg.

Eine letzte Chance bleibt: Wenn irgendwo dokumentiert wäre, was den Kindern einst gespritzt wurde, dann könnte man ein Gegengift finden. Eva Mozes Kor recherchiert vergebens, und Miriam wird 1993 mit 59 Jahren sterben. Sie stößt bei ihren Nachforschungen jedoch auf einen Mann, der ihr andere Erkenntnisse bringt:

Hans Münch, ein ehemaliger SS-Arzt, der mit Mengele in Auschwitz gearbeitet hatte, nach dem Krieg freigesprochen wurde und sich in Roßhaupten niedergelassen hatte. Sie reist nach Bayern, und sie findet einen gebrochenen Alten vor, der ihr von Depressionen klagt und jammert, dass er keine Nacht schlafen könne.

Eva Mozes Kor lässt sich beeindrucken und – eigentlich unfassbar – lädt Münch ein, sie 1995 zum 50. Jahrestag der Befreiung nach Auschwitz zu begleiten. Er willigt ein. Und Münch begleitet sie nicht nur, er zündet eine Kerze an, „im Gedenken an all die Menschen, die ich sterben sah“, und er unterschreibt eine Erklärung, in der er die Existenz der Gaskammern und den Mord an Tausenden bestätigt.

Da, sagt sie, „fühlte ich so einen starken Drang, ihm zu danken“, dass sie das Undenkbare wagt: Sie vergibt ihm.

Und als sie merkt, wie gut ihr das tut, wie es ihre Seele befreit und sie selbst von der Rolle das Opfers, vergibt sie auch Mengele. Allen Nazis. Allen Deutschen. Ob sie sich darum scheren oder nicht, „das ist deren Problem“, sagt sie, „ich bin frei.“

In der nächsten Woche wird Eva Mozes Kor wieder nach Europa kommen. Sie wird sich in Berlin mit Politikern treffen, mit Schülern diskutieren und aus ihrem Buch „Ich habe den Todesengel von Auschwitz überlebt“ (cbj-Verlag) lesen. Und sie wird auch wieder nach Auschwitz fahren, wissend, dass sie dort auf andere Nazi-Opfer treffen wird, die kein Verständnis für sie haben.

„Dabei haben Opfer eine enorme Macht – die Macht des Vergebens.“

Sie sagt aber auch, dass Vergeben nicht Vergessen heiße. Wie könnte sie je den Moment auf der Rampe vergessen, den Blick der Mutter, den letzten Gruß. Sie zeigt auf ein gerahmtes Zitat in der Eingangshalle ihres Museums.

Es ist von Edmund Burke: „Für den Triumph des Bösen reicht es, wenn die Guten nichts tun.“

Nie wieder soll ein Kind seiner Mutter entrissen werden.   Quelle : Bild

Früherkennung Von Kindesentführung

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